Obstbaumschnitt und Achtsamkeit

Mundräuberin und Obstbaumschneiderin Franziska teilt mit uns ihre Gedanken zum Obstbaumschnitt.

Die Leute fragen mich oft, wie ich denn zum Obstbaumschneiden gekommen bin. So genau weiß ich das eigentlich nicht, es war keine bewusste Entscheidung. Wie so viele Dinge, die man liebt, schlich es sich einfach in mein Leben und hat seinen Platz beansprucht.

Obstbäume schneiden ist gleichzeitig sehr einfach und sehr komplex. Es gibt ein paar grundlegende Regeln, die man verstehen muss, aber danach ist jeder Baum anders. Sein Standort, die Behandlung, die er in seiner Jugend und im Laufe seines Lebens erfahren hat, sein Genmaterial – das alles macht ihn zu einem Individuum. Er hat seine Macken und seine Geschichte. Man kann ihn verändern, aber nicht in jede beliebige Form zwängen. Erbgut, Umgebung und Vergangenheit bilden den Rahmen seiner zukünftigen Möglichkeiten.

Obstbaumschnitt Krone

Bevor ich einem Baum etwas wegnehme, lerne ich ihn erst mal kennen: Was ist das für einer? Was sind seine guten Eigenschaften? Was hat er für Probleme und warum? Kann ich ihm helfen? Was ist sein Potenzial, wo will er hin, und wie kann ich das unterstützen? Man braucht bei ihnen keine übertriebene Angst vor Fehlern zu haben. Obstbäume können die meisten „Körperteile“ nachwachsen lassen und verzeihen auch Fehler. Oft haben sie eine erstaunliche Kraft zur Regeneration, einen rührenden Überlebenswillen. Sie sind ziemlich zäh und sehr treu. Wenn man sich um sie kümmert, dann belohnen sie das.
Ein Bekannter von mir behauptet, Obstbäume müsse man nicht schneiden, denn Wildobst werde schließlich auch nicht geschnitten. Man mache die Bäume nur süchtig nach immer mehr Pflege und sich selbst eine Menge unnötiger Arbeit.

Ich finde, der Vergleich hinkt. Für mich sind Obstbäume die botanische Entsprechung von Hausrindern. Niemand würde behaupten, dass man sich um Kühe nicht zu kümmern braucht, weil Wisente schließlich auch ohne uns klar kämen. Ohne Menschen gäbe es weder Hausrinder noch Obstbäume. Daraus ergibt sich eine Verantwortung für uns als Mensch, und gleichzeitig symbolisiert es eine der schönsten Möglichkeiten unserer Beziehung zur Natur. Wir sind wechselseitig aufeinander angewiesen, es existiert ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten.

Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen und Pfirsiche wurden durch unsere Vorfahren über viele Jahrtausende hinweg bewusst erschaffen, gepflegt, verbessert und durch immer neue Züchtungen diversifiziert. Die allermeisten Obstbäume sind dabei Zwitterwesen mit wildem Wurzelstock und kultivierter Krone, deren Frucht nur noch entfernt an die ihrer Vorfahren erinnert. Trotzdem sind viele Sorten sehr alt und verkörpern die Arbeit von Generationen. Kirchen und Innenstädte erhalten wir ganz selbstverständlich als wichtige Kulturgüter. Warum dann nicht auch unsere Pflanzenzüchtungen? In ihnen steckt mindestens genauso viel Hingabe, Kreativität und Fachwissen wie in einem Bauwerk. Baumwerke sozusagen.
Oft rede ich von Bäumen, als wären sie Personen. So auch ihre Besitzer:

„Letztes Jahr hat er….“

„Ihm machen ja immer die Läuse so zu schaffen“

„Erholt er sich wieder?“

Manchmal sprechen sie über ihre Bäume wie über ungezogene Kinder:

„Der macht immer nur….“

„Der will ja nicht....“

„Ich weiß auch nicht, warum der….“

Ein Teil meiner Arbeit besteht in Baum-Mensch-Übersetzungsleistungen und Vermittlungsarbeit. Menschen die verstehen warum ihre Bäume tun, was sie tun, entwickeln meist ein entspannteres Verhältnis zu ihnen. Wir alle wissen gern, wie wir Lebewesen in unserer Umgebung behandeln sollten. Bäume sind durchaus mitteilsam, wenn man lernt, ihre Signale zu verstehen.

„Er braucht….“

„Wenn du …. machst, dann wird er….“

„Eigentlich will er nur….“

Selbst der rebellischste Baum hat Gründe für sein Verhalten, denn er folgt den Gesetzen der Biologie.

Am liebsten steige ich mitten in die Krone, betrachte den Baum von innen und oben. Im Gewirr der Äste findet man Muster, Ordnung, junge Knospen an scheinbar totem Holz. Alles steht in Verbindung miteinander. Man muss sich aufs Detail konzentrieren und gleichzeitig das Ganze im Blick haben. Anders als wir Menschen zelebrieren Bäume die Gleichzeitigkeit von gestern und heute und so kann ein Leitast mehrere Jahrzehnte umspannen.
Ich betrachte den Baum eine Weile und beginne, ihn von innen heraus zu verstehen. Ich folge dem Einfallswinkel der Sonne und der inhärenten Logik jeder Verästelung. Dann ist es irgendwann so, als würde der Baum tatsächlich beginnen zu sprechen und erzählt unter Umständen die ganze Geschichte seiner Bemühungen. Und er verrät auch, wo er gerne hin möchte, was noch in ihm steckt.
Wenn Obstbäume lange nicht gepflegt oder zu radikal geschnitten wurden, brauchen sie Hilfe, um wieder einen Zustand der Ausgeglichenheit zu erreichen. Das kann dauern;. Bäume verzeihen, aber sie brauchen Zeit.

Als ich mit dem Obstbaumschneiden begann, war mein eigenes Gleichgewicht gerade gestört. Den Bäumen bei ihrer Regeneration zu helfen, hatte etwas Tröstliches. „Das kriegen wir wieder hin“, habe ich oft und gerne gesagt.
Während ich die Verwirrungen einer falschen Pflege bereinigte, lichtete sich nach und nach auch das Dickicht in mir selbst. Ich verstand, dass wir alle unseren inneren Regeln folgen und entsprechend unserer Natur behandelt werden müssen. Man kann von einem Obstbaum nicht verlangen, dass er regelmäßig und gut trägt, wenn man ihn nicht düngt oder falsch schneidet. Versucht man, ihn gewaltsam in eine Form zu zwingen , die ihm nicht entspricht, wird er erst schwierig und dann nicht mehr handhabbar. So viele Bäume habe ich getroffen, die ihr Potenzial nicht entfalten konnten, weil ihre Besitzer etwas von ihnen erwarteten, das außerhalb ihrer Möglichkeiten lag. Häufig tun wir das nicht nur unseren Bäumen an, sondern auch uns selbst.

Astschere

Obstbaumschnitt und Krisenbewältigung haben viel gemeinsam. In beiden Fällen ist es wichtig, dass man sich Zeit lässt, genau hinschaut und dem Ganzen noch eine Chance gibt. Im besten Fall macht man vergangene Fehler wieder gut und befreit ihn und sich selbst aus aufgezwungenen Formen.

Manchmal sind die Dinge nicht eindeutig. Man kann nicht immer abschätzen, wie ein Trieb sich entwickeln wird, was der nächste Sommer bringt. Also lässt man dem Baum ein paar Alternativen. Ein guter Schnitt setzt die Energie des Baumes frei und regt seine Selbstheilungskräfte an. Danach gibt man der natürlichen Dynamik Zeit und Raum. Mit dem Schnitt legt man Grundsteine, entfernt unnötigen Ballast und Verwirrung. Idealerweise steht er sich jetzt selbst weniger im Weg, bekommt mehr Sonnenlicht und verschwendet weniger Energie an unfruchtbares Holz und Konkurrenztriebe.
Beim Obstbaumschnitt orientiert man sich nicht an den Defiziten, sondern an den Möglichkeiten. Letztlich sind nicht die Wassertriebe oder toten Äste interessant, sondern der Neutrieb. Wer Obstbäume schneidet, der glaubt an eine fruchtbare Zukunft. Die eigenen Handlungen Früchte tragen zu sehen, ist eine wunderschöne Erfahrung. Indem wir für ein Lebewesen sorgen, auf das wir angewiesen sind, übernehmen wir nicht nur Verantwortung für ein kleines Stückchen Natur, sondern auch für uns selbst.

***

Franziska Schmidt hat Umweltsoziologie in Edinburgh, Schottland studiert. Sie arbeitet als Schriftstellerin und Obstbaumschneiderin. Mehr Beiträge findest du in ihrem Blog.