Pflücken, Frösteln, Fotografieren

Auf Kräutersuche im Berliner Plänterwald. Journalistische Reportage von Annika Hopp

Ein ausgedehntes Waldstück, Schneeflocken und zarte Pflänzchen: Julia K. (30) geht mit interessierten Großstädtern auf Kräutersuche – und das mitten in der Hauptstadt. Dreizehn Frauen und Männer stehen vor einem S-Bahnhof im Stadtteil Treptow mitten in Berlin. Abwartend. Eingepackt in dicke Jacken, mit Mütze, Schal, Rucksack und Wanderschuhen. Outdoorkleidung – eben typisch deutsch. Die Temperaturen liegen an diesem Sonntag im Januar knapp über dem Nullpunkt. Die Sonne nimmt heute eine Auszeit. Mal wieder.

Unauffällig stößt eine weitere Frau zu der Gruppe. Kälte scheint ihr ein Fremdwort zu sein. Mütze, Handschuhe oder Schal? Fehlanzeige. Dafür klammert sie sich an ihrem Jutebeutel, als wäre eine Heizdecke darin. „Hallo, ich bin Julia und werde heute eine Kräuterwanderung mit euch machen“, stellt sich die junge Frau vor. Sie lächelt noch einmal kurz und die Gruppe ist bereit zum Aufbruch.

Zu Fuß geht es in Richtung Plänterwald. Fünfzehn Minuten, in denen sich beim Anblick der blätterlosen Bäume in vielen Gesichtern der Teilnehmer eine Frage widerspiegelt: Werden wir überhaupt etwas finden? „Ja, sicher“, sagt Julia ohne zu Zögern und hält bereits das Pflanzenbestimmungsbuch in der Hand. „Zwar ist es ein wenig schwierig, die einzelnen Arten zu unterscheiden, da meist nur das Gehölz zu erkennen ist. Aber ihr werdet gleich sehen, dass nicht alle Pflanzen ihre Blätter verlieren.“

Die 30-Jährige ist in ihrem Element. Für ihr Wissen über Kräuter absolvierte sie eine Ausbildung in Pflanzenheilkunde. Den praktischen Teil eignete sie sich selbst bei Leitern anderer Kräuterwanderungen an, etwa der Kräuterexpertin Heidemarie Fritzsche. Die perfekte Basis also für die heutige Wanderung. Die Teilnehmer erreichen das Waldstück und sind nun umgeben von Eichen und Buchen, die links und rechts in die Höhe schießen. Laub bedeckt den Boden.

Mit gespannter Erwartung folgen die Teilnehmer Julia. Männer wie auch Frauen, junge wie auch ältere Menschen. Sie möchten heute etwas darüber erfahren, welche Kräuter geerntet und wie sie verwendet werden können. Einige erhoffen sich einen Schritt in Richtung Unabhängigkeit von der Apotheke und vom Supermarkt. Andere wiederum wollen sich dabei auf eine Krise, wie einen Stromausfall vorbereiten. Zielstrebig läuft Julia zu einem schmalen Trampelpfad direkt neben dem eigentlichen Weg. An der ersten Gabelung bleibt sie stehen. Und tatsächlich schauen zwischen dem verwelktem Blattwerk und einzelnen Schneeansammlungen kleine runde Blätter hervor. Die Kräutersuche kann beginnen. Julia deutet auf ein krautiges Gewächs, welches den Waldboden bedeckt. Auf dem ersten Blick erinnert die Pflanze an eine zu kurz geratene Brennnessel. „Das ist Gundermann“, beginnt Julia mit ihrer Erklärung. Alle Augenpaare richten sich nun auf den Boden. Und dort bleiben sie auch die nächsten zwei Stunden. Die ersten Fotos und Notizen werden gemacht, während sich das Kraut vom ganzen Ruhm unbeeindruckt zeigt.

Julia bückt sich und pflückt Teile des Bodendeckers. „Als Heilpflanze verwendet hilft der Gundermann gegen Entzündungen von Nase, Hals und Bronchien.“ Aber essbar ist die Pflanze ebenfalls, etwa in Salaten oder vermischt als Kräuterquark, wie Julia weiter erklärt. Sie zupft eines der kleinen Blätter ab und nimmt es ohne zu Zögern in den Mund. Dann reicht sie den Stängel mit den Blättern an die Nächsten weiter. „Ihr könnt gerne mal ein Stückchen probieren“, sagt sie, während nach und nach jeder ein winziges Blättchen abreißt. „Zu Anfang solltet ihr nur eine kleine Menge an Kräutern zu euch nehmen, damit sich der Körper daran gewöhnt. Außerdem merkt ihr bei einem Stück bereits, ob euer Körper die Pflanze mag oder nicht.“

„Es schmeckt ein wenig nach Lakritz“, murmelt einer der Teilnehmer, während er das Blatt zerkaut wie bei einer Weinprobe. „Das stimmt, der Gundermann kann schon recht stark im Geschmack sein“, antwortet Julia und nimmt sich noch ein zweites Blatt in den Mund. Die gebürtige Brandenburgerin hat keinerlei Berührungsängste mit pflanzlicher Nahrung. Selbst gesammelte Kräuter sind für sie ein Lebensmittel wie jedes andere. Ob als Saft, getrocknet für Tee oder roh.

Nachdem die Pflanze ausgiebig fotografiert und einige Exemplare eingetütet worden sind, geht es weiter. Ganze drei Schritte. Dann tauchen bereits die nächsten Arten auf. Efeu, Scharbockskraut und Beifuß. Wie hieß noch einmal die erste Pflanze? Und wofür war der Efeu noch einmal gut? Wer sich keine Notizen gemacht hat, ist hier aufgeschmissen, dabei sind gerade einmal fünfzehn Minuten vergangen. In den mitgebrachten Tüten häufen sich bereits die grünen Gewächse. Zutaten für gesunde Smoothies, heißen Brennnesseltee oder einen knackigen Salat. Kulinarisch hat der Tag damit ausgedient.

Eines fällt bei Julias Wanderung jedoch auf: Sie sammelt nicht direkt an der Straße. Schadstoffe sind das Problem, schließlich befinden wir uns immer noch in einer Großstadt. Deshalb ist es ihr wichtig, dass zwischen Sammelstelle und Straße ein gewisser Abstand, wie ein Haus oder eine Hecke besteht. Aber wie stark sind die Pflanzen tatsächlich belastet? Und kann man in der Stadt überhaupt guten Gewissens Kräuter pflücken und essen?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Online-Plattform mundraub. Auf der Plattform kann sich jeder, der möchte, über Straßenobst, Gemüse und Kräuter informieren und sich sogar deren Vorkommen in der eigenen Umgebung auf einer interaktiven Karte anzeigen lassen.

Gründer von mundraub ist Kai Gildhorn. Aus einer Studie der Technischen Universität in Berlin aus dem Jahr 2013 hat er sich nützliche Regeln für den Umgang mit Pflanzen hergeleitet. Die Studie besagt, dass in Berlin Obst, Gemüse, aber auch Kräuter, die an verkehrsbelasteten Standorten wachsen, oftmals mit Schadstoffen belastet sind. Dabei hängt die Belastung stark von der Entfernung der Straße ab. Bei einem Abstand von weniger als zehn Metern zur Straße lagen zwei Drittel aller Gemüseproben über dem EU- Grenzwert für Blei. Bodennahe oder im Boden wachsende Pflanzen, zu denen auch Kräuter zählen, sind dabei stärker belastet als Baumobst. Demnach rät Gildhorn dazu, Kräuter mit einem Abstand von zehn Metern zu ernten. Bei sehr stark befahrenen Straßen mindestens zwanzig. Also keine Gefahr – wenn man bestimmte Regeln beachtet.

Die ersten Schneeflocken fallen vom bedeckten Himmel und die Teilnehmer laufen weiter den schmalen Waldweg entlang zu einer kleinen Schrebergartenkolonie. Die winzigen Flocken zwischen den Bäumen geben der Wanderung einen romantischen Touch, während die Gruppe darauf achten muss, keinen Hundehaufen mitzunehmen. Was auf dem ersten Blick wie eine frostige Steppe anmutet, entpuppt sich beim zweiten als ein kleiner Dschungel aus verschiedensten Arten. Julia hat alle Hände voll zu tun, ihr Wissen über die Welt der Pflanzen weiterzugeben. Der Unterschied zwischen Spitz- und Breitwegerich ist schnell geklärt. Die Blätter machen es aus. Der Brennnessel hingegen gehen die meisten der Kräuterenthusiasten lieber aus dem Weg. Nur zur Sicherheit.

Bevor die Gruppe das Ende der Wanderung erreicht, nimmt sich jeder noch einen kleinen Proviant mit auf dem Weg. Runde, rote Früchte hängen deutlich sichtbar an den Ästen eines Strauches. Als wäre die Pflanze direkt für sie dort gepflanzt worden. Die ersten Teilnehmer beginnen bereits, die eigene Beute zu verdrücken, bis auch die letzten in der Runde wissen, was sie vor sich haben.

Die Früchte der Hagebutte haben es, was das Vitamin C anbelangt, in sich. Die Einsatzmöglichkeiten der Pflanze sind umfangreich: Hagebutten bringen die Verdauung wieder in Schwung, helfen bei Übelkeit und haben in Form von Pulver eine starke entzündungshemmende Wirkung. Dass die Pflanze Kindern oftmals als Basis für Juckpulver dient, lässt Julia ebenfalls nicht unerwähnt.

Damit ist auch die letzte Weisheit des Tages abgehakt. Leicht durchgefroren verlässt die Gruppe den Plänterwald. In den meisten Gesichtern ist zu erkennen, wie sehr sie sich eine heiße Tasse Tee wünschen. Vielleicht aus den Hagebutten. Oder aus den Brennnesseln. Nur Julia schreitet beschwingt durch die Gruppe. Sie scheint erst an der frischen Luft richtig lebendig zu werden.

Quellenverzeichnis